„Zwei Herzen in einer Brust“ schlagen zu haben, ist oftmals mit Wehmut und Zerrissenheit verbunden. Nicht so bei Hamza Boutakhrit. Der pragmatisch und äußerst strukturiert denkende und agierende 28-jährige Abwehrspieler des SVA nutzt seine beiden „Herzen“ und zieht aus jedem das, was ihn weiterbringt und schlussendlich zu dem macht, der er ist. Seine Familie stammt aus Marokko, er selbst wurde als ältester Sohn von insgesamt vier Geschwistern in Gelnhausen geboren. „Definitiv schlagen zwei Herzen in meiner Brust, da beide Länder in gewisser Weise meine Heimat sind. Vom Kopf her denke ich oft typisch Deutsch, von der Leidenschaft bin ich wohl eher marokkanisch angehaucht. Ich profitiere aber von beiden Anteilen in allen Bereichen meines Lebens, deshalb ist die Tatsache, dass ich sozusagen zwei Kulturen in mir vereine, für mich nur von Vorteil“, berichtet er offen.
Generell ist Hamza Boutakhrit ein Mensch der Vielfalt. Und versteht es exzellent, für ihn wichtige Elemente aus den einzelnen Bereichen seines Lebens in andere zu übertragen. So wie beispielsweise die Werte, die in der Familie seitens der Eltern an die Kinder vermittelt wurden: „Loyalität, Ehrlichkeit und Zusammenhalt in der Familie war meinen Eltern extrem wichtig. Meine Mutter hat uns Kindern immer gepredigt, dass es kein Problem gibt, das wir nicht lösen könnten, wenn wir uns offen an einen Tisch setzen und offen darüber sprechen. Das hat mich enorm geprägt und diese Einstellung nehme ich immer mit in meinen Beruf und in die Mannschaft“, gewährt er Einblicke in seine Werte und Überzeugungen, die er als einer der erfahrenen Spieler auch mit in die Mannschaft der Viktoria trägt: „Letztlich ist die Mannschaft so etwas wie eine zweite Familie, wenn man mal herunterbricht, wie viel Zeit man mit den Jungs tatsächlich verbringt, sei es im Training oder an den Spieltagen. Dementsprechend gelten auch ähnliche Werte wie Ehrlichkeit, offene Worte untereinander um Probleme anzusprechen und zu versuchen, sie zu lösen. Es geht nie darum, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, sondern nur darum, etwas besser machen zu können. Für mich gilt ohnehin, erst einmal nach sich selbst zu schauen bevor man mit dem Finger auf andere zeigt.“
Offen angesprochen hat er auch Anfeindungen auf dem Fußballplatz. „Natürlich ist es schon so, dass ich wegen meiner äußerlich erkennbaren arabischen Abstammung auch mit Ablehnung konfrontiert wurde. Ich stamme aus einem kleinen Dorf, Altenhaßlau, und bin als kleiner Junge der einzige Ausländer in der Klasse gewesen. Auch auf dem Fußballplatz gab es immer wieder einmal unschöne Kommentare aus dem gegnerischen Umfeld, aber auch da fragte ich dann gerne mal offen nach, woher das Problem stammt und ob eventuell schlechte Erfahrungen gemacht wurden.“ Pragmatisch denkt er auch in dieser Beziehung: „Generell halte ich es da mit dem Grundsatz, mich nicht mit Dingen aufzuhalten, die ich nicht ändern kann. Natürlich sollte man sich als Gesellschaft aber auch jeder Einzelne strategisch darüber Gedanken für die Zukunft machen, aber die Realität ist nun einmal so. Mich trifft das nicht persönlich, im Gegenteil, auf dem Fußballplatz pusht es mich eher“, gibt er unumwunden zu.
Der kleine Hamza von damals kommt ohne ein Wort Deutsch zu sprechen in den Kindergarten, weil zuhause arabisch gesprochen wird. „Im Kindergarten, der Schule und später im Fußballverein ist es wieder wie in einer kleinen Familie gewesen. Man ist eine Gemeinschaft, ich habe mich integriert und die anderen mich. Die Herkunft hat keinen Unterschied gemacht.“ Mit sechs Jahren fängt mit Fußball an, weil die Freunde aus der Schule auch spielen. „In der ersten Klasse gab es eine Schnupperwoche beim Handball, aber da wurde mir zu wenig mit dem Ball gemacht und zu viele Liegestütze und Konditionstraining. Das war nichts für mich“, erinnert er sich schmunzelnd an seine Kindheit. Beim FSV Altenhaßlau spielt er bis er 12 Jahre alt ist, danach wechselt er zum 1. FC Gelnhausen.
„Dort wurde ich dann gesichtet, fuhr zu Auswahlturnieren und kam in eine DFB-Auswahl. Schließich wurde ich den Offenbacher Kickers empfohlen und nach einigen Sichtungstrainings, bei denen aus 35 Spielern nur zwei zur Verpflichtung ausgewählt wurden, wechselte ich in die D-Jugend an den Bieberer Berg.“ Dort spielt er im NLZ bis zur B-Jugend, bevor er sich Bayern Alzenau anschließt.
„Nach der B-Jugend bin ich zurück zu meinem Heimatverein Altenhaßlau, die damals eine Spielgemeinschaft mit dem VFR Meerholz hatten. Zu der Zeit habe ich mein Abitur gemacht, sie spielten in der gleichen Liga wie Alzenau aber ich hatte keine langen Anfahrten und konnte so Schule und Fußball besser vereinen.“ Generell sei es im Hause Boutakhrit immer sehr wichtig gewesen, die Schule nicht zu vernachlässigen. „Meine Mutter hat super viel Wert auf die Schule gelegt und darauf, gute Noten zu haben. Mein Vater war der Fußballbegeisterte, der mich überall hingefahren hat und bei ihm stand der Fußball im Vordergrund.“ Als Kind habe er natürlich versucht, beide gegeneinander auszuspielen. „Aber ich war wirklich pflegeleicht was Schule anbelangt und habe eigentlich immer alles selbstständig erledigt. Ich wurde immer unterstützt von meinen Eltern, egal bei was Mir war und ist immer sehr wichtig, Dankbarkeit zu zeigen und respektvoll mit ihnen umzugehen.“
Uwe Müller, ehemaliger Spieler von Eintracht Frankfurt, ist seinerzeit in Meerholz Trainer des talentierten Abwehrspielers Hamza Boutakhrit, der schon damals neben dem Talent auch mit seinen 1,88 Meter Körpergröße und einem athletischen Körper beste Voraussetzungen mitbringt. „Als ich 18 wurde hat mich Uwe Müller direkt in 1. Mannschaft gezogen, in die Kreisoberliga. Dort habe ich gleich jedes Spiel gemacht. Er gab mir damals den Ratschlag, dass ich damals hätte höherklassig spielen können, aber in den ersten Jahren auch die Spielpraxis enorm wichtig ist und dass mir die Spielpraxis, die ich dort als Führungsspieler sammeln konnte, in meinem zukünftigen Fußballerleben weiterhelfen wird. Er sollte damit Recht haben.“ Den Ratschlag Müllers befolgt Hamza Boutakhrit bei allen weiteren fußballerischen Entscheidungen. Er will spielen, nicht auf der Bank sitzen. Über Müller kommt erstmals ein Kontakt zu Viktoria Aschaffenburg zustande. Das war im Jahr 2014. „Uwe stellte Kontakt zu Slobodan Komljenovic her, der damals in Aschaffenburg Trainer war und zu Jochen Seitz nach Alzenau. Ich trainierte bei beiden Vereinen zur Probe mit, entschied mich dann aber wegen der Perspektive auf Spielpraxis für den Oberligisten Alzenau statt für den Regionalligisten Aschaffenburg. Der Schritt aus der Kreisoberliga in die Oberliga war für mich schon enorm und bedeutete eine gehörige Umstellung.“
Doch Hamza nimmt die Herausforderung an und besteht sie. Er behauptet sich in der Liga, entscheidet sich jedoch für eine berufliche Perspektive, statt ausschließlich auf die Karte Fußball zu setzen. „Nach zwei Jahren in Alzenau unter Jochen Seitz entschied ich mich für einen Wechsel zur SG Bad Soden in die Landesliga. Ich hatte mein duales Studium begonnen und wollte erst einmal sehen, ob ich den Sport mit dem Studium vereinbaren kann.“ Er kann. Und weil Hamza ein intelligenter, strukturierter und dazu auch noch diszipliniert agierender Mensch ist, kann er sogar noch mehr: „Im Februar 2017 rief mich dann Jochen Seitz wieder an, er war da schon Trainer bei der Viktoria. Er fragte mich, ob ich nicht doch wieder ambitionierter Fußball spielen wolle. Ich fand den Verein und die Verantwortlichen sympathisch, Jochen kannte ich ja bereits aus Alzenau und so war es für mich schnell klar, dass ich im Sommer wechseln würde.” Doch es ist zunächst eine Herausforderung für den doppelgleisig fahrenden Boutakhrit. „Ich bin da aber schon immer recht straight durch gegangen. Morgens um 5.30 Uhr bin ich aufgestanden, bin aus Bruchköbel die 130 Kilometer nach Mosbach zum Studium gefahren, hatte den ganzen Tag Uni und bin danach abends zum Training nach Aschaffenburg gefahren. Danach war noch lernen angesagt bis tief in die Nacht und am nächsten Tag bin ich wieder um 5.30 Uhr raus. Drei Jahre lang ging das so. Das muss man wirklich wollen“, erzählt er lachend mit einem leichten Kopfschütteln.
Und auch jetzt, nach Abschluss seines Bachelor-Studiums der Wirtschaftswissenschaften, arbeitet Hamza Boutakhrit in Vollzeit. „Ich habe niemals voll auf die Karte Fußballprofi gesetzt, sondern den Sport immer als Hobby gesehen. Wobei ich mit diesem Begriff auch meine Probleme in diesem Zusammenhang habe, denn wenn ich etwas mache, mache ich es richtig. Also Hobby im Sinne von, dass ich nicht meinen Lebensunterhalt komplett damit verdienen möchte. Meine Arbeit als Berater in einer Wirtschaftsberatungsagentur macht mir Spaß und ich brauche das als Gegenpart zum Fußball.“ Denn wenn er sich nicht mit Gegenspielern auf dem grünen Rasen duelliert, verhandelt Hamza Boutakhrit mit Entscheidern und Geschäftsführern. „Mit diesen an einem Tisch zu sitzen, Dinge zu verhandeln und strategische Lösungen zu finden, gibt mir unheimlich viel. Aber jetzt kommt wieder der Punkt, den ich in der Familie und im Fußball so schätze und der auch im Berufsleben zum Tragen kommt. Es ist so wichtig, sich offen zusammen zu setzen und Dinge direkt anzusprechen, um Lösungen finden. Natürlich muss ich das in meinem Job besser verpacken und auch ein wenig verkaufen, aber genau das fordert mich und darauf möchte ich nicht verzichten.“ Sein Arbeitgeber, die Agentur Badenoch + Clark mit Sitz in Frankfurt am Main, ermöglicht ihm das Spielen auf Regionalliganiveau neben seinem Beruf. „Bei solch einer Konstellation ist es einfach so, dass beide Seiten das wollen müssen. Du als Spieler aber auch der Arbeitgeber, der das ermöglicht. Ich habe Budget- und Ergebnisverantwortung, aber die Möglichkeit, flexibel aus dem Home-Office zu arbeiten oder aus dem Bus bei Auswärtsfahrten. Mein Chef in Frankfurt ist Thomas Kessler, der Sohn von Hans Kessler, dem ehemaligen Präsidenten von Darmstadt 98. Da entstand schon gleich im ersten Vorstellungsgespräch eine gute Basis, weil er fußballbegeistert ist, so dass er mir bezüglich meiner Trainings- und Spielabwesenheitszeiten keine Steine in den Weg legt. Aber ich werde natürlich wie alle anderen auch an Ergebnissen gemessen, die ich bringen muss.“
Ergebnisse bringt er, auf beiden Seiten. Im Job, aber auch auf dem Platz bei der Viktoria, bei der er seit 2017 eine feste und kaum wegzudenkende Größe im Team ist. Mit seinen 28 Jahren und wegen der langen Zusammenarbeit mit Cheftrainer Jochen Seitz ist er zudem einer der Führungsspieler im Team. Er selbst verwendet lieber den Begriff Mentalitätsspieler: „Ein Mentalitätsspieler ist ein Spieler, der jeden Kopfball, jeden Zweikampf gewinnen will. Mentalität bedeutet für mich, immer 150 Prozent zu geben, alles gewinnen und jeden Pass an den Mann bringen zu wollen. Durch diese Leistung voranzugehen und dadurch die Basis zu schaffen, andere Spieler mitzunehmen. Wenn die anderen sehen, dass man in jeden Zweikampf fliegt, übernehmen sie das. Das macht dann eine Mannschaft aus. Von daher sehe ich mich schon als einen solchen Mentalitätsspieler.“ Dies kann sein aktueller Trainer Jochen Seitz, unter dem er nun in seine siebte Saison geht, nur bestätigen: „Hamza ist enorm wichtig für uns, weil er ein enormer Teamplayer ist. Er gibt auf dem Platz alles und ist ein Mentalitätsspieler, der versucht, die anderen mitzureißen. Er ist ein Kämpfertyp, vielseitig einsetzbar und charakterlich top. Man kann sich auf ihn verlassen und nimmt immer noch Dinge an, die man ihm erklärt.“ Eines seiner Markenzeichen neben dem mittlerweile immer zum Zopf gebunden schwarzen Haar sind seine weiten Einwürfe, die immer punktgenau im Strafraum via Elfmeterpunkt segeln. Ein Relikt aus der Handballschnupperwoche? „Eher nicht. Sie sind einfach schon immer da, ich trainiere das nicht bewusst. Natürlich studieren wir manchmal ein, wer wo steht, damit sie auch erfolgreich sein können. Und tatsächlich sind schon einige Tore dadurch entstanden“, antwortet er lachend.
Hamza Boutakhrit geht aber nicht nur bei der Viktoria voran, sondern auch als ältester Bruder innerhalb der Familie. Der älteste seiner Brüder, Younes, ist ein Jahr jünger als Hamza und Ausbilder für Scharfschützen bei der Bundeswehr. Dann gibt es noch Jihad, der bei der TSG Hoffenheim II Fußball spielt. Yasir ist der jüngste der Boutakhrit-Brüder und gerade 18 Jahre alt geworden. „Ich bin der älteste von uns und ich weiß, dass die jüngeren zu mir aufschauen. Deshalb war es mir immer wichtig, mit guten Leistungen voran zu gehen - sei es schulisch, bei persönlichen Charaktereigenschaften oder im Fußball. Früher haben wir im Garten immer gegeneinander Fußball gespielt und auch heute tauschen wir uns regelmäßig aus. Gerade mit Jihad, der in Hoffenheim spielt. Er hat einen anderen Weg als ich gewählt und setzt jetzt nach dem Fachabitur alles auf die Karte Fußball. Er fragt mich natürlich ab und zu nach Rat, wir schauen unsere Spiele gegenseitig an und sind immer in Kontakt.“
Hamza selbst, der seit sieben Jahren mit seiner Freundin und Handballerin Juliana liiert ist, hadert nicht mit seiner Entscheidung, anders als sein jüngerer Bruder Jihad immer zweigleisig gefahren zu sein. „Ich bin absolut fein damit, wie es gelaufen ist. Von der Kreisoberliga direkt in der Oberliga gespielt zu haben und danach dann in der Regionalliga ist schon auch ein guter Weg. Ich möchte gerne mit der Viktoria zukünftig um den Aufstieg in die 3. Liga mitspielen und es vielleicht dann auch mal schaffen. Das wäre schon ein Traum.“ Seinen Job würde er aber selbst dann nicht aufgeben. „Ich habe für mich entschieden, dass das keine Option für mich wäre. Ich brauche meine Arbeit als Ausgleich. Nur so kann ich in beiden Bereichen meine Leistung bringen, davon bin ich überzeugt.“ Eine andere Meinung hätte man kaum erwarten können von Hamza Boutakhrit.
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Stand: 6. Oktober 2021 / Autorin: Melanie Kahl-Schmidt / Redaktion: Moritz Hahn
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