Der zweite Teil unserer Interviews setzt ein zu einem Zeitpunkt, als der zwischenzeitlich gesundheitlich wiederhergestellte Simon Schmidt nach einer erfolgreichen Spielzeit am Schönbusch diesem noch einmal den Rücken kehrte, um bei den professioneller aufgestellten Lilien einen letzten Versuch zu starten. Die abermalige Rückkehr an den Schönbusch zwei Jahre später, zur Saison 2009/10, markiert zugleich eine Zäsur in Simon Schmidts Leben. Nach Beendigung seines Studiums an der Fachhochschule Aschaffenburg stand für den nunmehr 25-Jährigen fest, ab sofort auf die berufliche Karte zu setzen und nebenher Fußball zu spielen. Dass dieses unscheinbare Wörtchen „nebenher“ innerhalb der nächsten zehn Jahren mit sportlichen Erlebnissen prall gefüllt werden würde, hätte sich Simon zum damaligen Zeitpunkt sicher noch nicht träumen lassen.
Das Interview mit dem Viktoria-Kapitän führten Wolfgang Fleischer und Moritz Hahn.
Die Viktoria wurde in dieser Spielzeit Vizemeister der Oberliga Hessen, aber sesshaft bist Du zunächst einmal nicht geworden. In der nächsten Saison zog es Dich wieder ans Böllenfalltor.
Simon Schmidt: „Ich habe in der Saison 2006/07 bei der Viktoria jedes Spiel gemacht, bin langsam wieder in Form gekommen und konnte durch konstante Leistungen auf mich aufmerksam machen. Dadurch erweckte ich das Interesse anderer Vereine, auch die Lilien waren wieder dran. Darmstadt spielte nach dem Regionalliga-Abstieg zwar auch „nur“ Oberliga und war damit ein direkter Konkurrent der Viktoria, die Bedingungen am Böllenfalltor waren aber ungleich professioneller. Ich wollte diese Chance nicht verstreichen lassen, zumal es mir vom Zeitaufwand – ich studierte damals noch – möglich war, unter Profibedingungen zu trainieren. Hinzu kam die Situation bei der Viktoria. Wir sind mit der Mannschaft Zweiter geworden, aber dann wurde die sportliche Leitung komplett ausgetauscht. Wir „alten“ Spieler hatten auf einmal keinen Stellenwert mehr, die erfolgreiche Mannschaft wurde durch die Verpflichtung vieler neuer Spieler quasi aufgelöst. Das schmeckte mir nicht und machte den Wechsel natürlich leichter.“
Vom wem ging die Initiative aus?
„Die Lilien haben mit mir Kontakt aufgenommen. Nach dem sportlichen Abstieg aus der Regionalliga hat man in Darmstadt nach guten Oberliga-Spielern Ausschau gehalten, die man den zukünftigen direkten Konkurrenten abgeworben hat. Ein cleverer Schachzug, der sich beim Pokalfinale 2008 ausgezahlt hat, denn dort habe ich beim 2:0-Sieg des SVD über die Viktoria beide Tore vorbereitet. Am Böllenfalltor habe ich 25 bis 30 Spiele im Jahr gemacht und auch am sofortigen Wiederaufstieg der Lilien in die Regionalliga Südwest mitgewirkt.“
Warum dann nach zwei Jahren der erneute und diesmal endgültige Wechsel an den Schönbusch?
„Der Hauptgrund war, dass ich zwischenzeitlich mein Studium zum Wirtschaftsingenieur abgeschlossen hatte. Ich war damals Mitte 20. Für mich war nunmehr klar, dass in Sachen Profifußball der Zug abgefahren war. Ich wollte in das Berufsleben einsteigen und nebenbei Fußball spielen. Diesbezüglich fand ich bei der Viktoria damals ideale Voraussetzungen vor.“
Die Viktoria hatte sich gerade aus finanziellen Gründen aus der Regionalliga Süd verabschiedet…
„Ja, ich kam dazu, als nach dem Rückzug aus finanziellen Gründen ein Team für die Oberliga neu formiert wurde. Marco „Bulle“ Roth war damals noch Trainer.“
Es kam aber noch schlimmer. In der nächsten Saison folgte der Sturz in die Verbandsliga…
„Ich wäre mit Aschaffenburg auch runter in die Kreisliga gegangen, das war für mich nie ein Thema. Schon aus Verbundenheit zum Verein hätte ich das gemacht. Atmosphärisch hat es in der Mannschaft gestimmt. Vom Charakter her hatten wir damals eine super Truppe, zu den meisten Mitspielern aus dieser Zeit habe ich heute noch freundschaftlichen Kontakt. Wir mussten uns in der neuen Liga erst orientieren, aber schon bald zeichnete sich ab, dass wir mit dieser Mannschaft auf jeden Fall um den Aufstieg mitspielen würden. Den haben wir schließlich hauchdünn über die Relegation perfekt gemacht. Es war eine schöne Zeit damals, das hat schon geprägt. Jeder, der damals dabei war, wird dir das bestätigen.“
Der Wiederaufstieg in der Oberliga Hessen kam gerade rechtzeitig, um eine einmalige Gelegenheit beim Schopfe zu packen…
„Der Bayerische Fußballverband suchte gerade nach Teilnehmern für die zur Saison 2012/13 neu gegründete Regionalliga Bayern. Nach den Statuten musste die Viktoria in der Spielzeit 2011/12 in der Oberliga Hessen mindestens Sechster werden, um dabei zu sein. Dieses Kriterium haben wir erfüllt. Wir wurden Vierter.“
Der Coup war naturgemäß an einen Verbandwechsel zum BFV gekoppelt. Ein heikles Thema, das durchaus kontrovers diskutiert wurde. Wie hast Du Dich seinerzeit positioniert?
„Ich habe das eigentlich neutral gesehen. Der Wechsel zum BFV ermöglichte mir ein Wiedersehen mit Spielern, die ich noch von der Löwen-Jugend her kannte. Andererseits wäre noch ein Jahr Oberliga Hessen und dann vielleicht Regionalliga Südwest mit Gegnern wie Darmstadt oder Offenbach auch ganz cool gewesen. Aber so war das natürlich der schnellste Weg nach oben. (lacht)“
Glaubst du, das mit dem Aufstieg in die Südwest hätte in absehbarer Zeit geklappt? Seit Einführung der Oberliga Hessen zur Saison 1994/95 war der SVA dort noch nie Meister…
„Das muss man aus verschiedenen Perspektiven betrachten: Wenn ich in die Regionalliga Bayern aufsteige, steige ich unter Umständen – so wie es ja auch letztlich der Fall war – nach zwei Jahren wieder ab, während es vielleicht in der Oberliga Hessen im dritten Jahr mit dem Aufstieg in die Südwest geklappt hätte. Da steckt man einfach nicht drin. Es ist ja so, dass das immer davon abhängig ist, wie gut die Mannschaft ist. Mit unserer heutigen Mannschaft könnten wir auch sehr gut in der Südwest bestehen.“
Die Regionalliga Bayern erwies sich schnell als anderes Kaliber. Wir erinnern uns an die ein oder andere herbe Klatsche. Hast Du das so erwartet und wie habt ihr das als Team verarbeitet?
„Ehrlicherweise hatten wir die Regionalliga Bayern nicht so stark erwartet. Das Feld bestand aus vielen Ex-Bayernligisten, die sich aber vor der Runde enorm verstärkt hatten. Für uns war das damals eine schwierige Situation. Wir kamen aus der Oberliga Hessen, wo wir mit vergleichsweise geringem Aufwand oben mitgespielt hatten. Auf einmal musste man tägliches Training mit dem Beruf vereinbaren. Das ging zuweilen schon an die Belastungsgrenze. Von den langen Auswärtsfahrten noch gar nicht zu reden. Der enge Terminplan ließ einen kaum verschnaufen, das Leben bewegte sich nur noch zwischen Training, Spiel und Arbeit. Da die Ligaspiele Schlag auf Schlag folgten, blieb kaum Zeit, nach einer Niederlage den Kopf frei zu bekommen und diese aufzuarbeiten. Auch nicht gerade leistungsfördernd wirkten sich Unruhe im Verein und Trainerwechsel aus.“
Jetzt spieltet ihr auch gegen zweite Mannschaften von Profivereinen. Das dürfte für Dich aufgrund Deiner Vergangenheit bei den Junioren der Löwen besonders interessant gewesen sein, oder?
„Ja, das waren schon interessante Begegnungen, die auch Spaß gemacht haben. Aber sie machten auch eine große Kluft deutlich: hier nur Amateure, dort nur Profis.“
Trotzdem hielt man die Klasse. In der zweiten Regionalliga-Saison bekam eine aus dem Boden gestampfte Truppe keinen Fuß auf denselbigen. Abstieg unvermeidlich aus Deiner Sicht?
„Aufgrund der vorangegangenen Querelen hatten wir, um es auf den Punkt zu bringen, in der Spielzeit 2013/14 schlichtweg keine wettbewerbsfähige Mannschaft. Für die kurzfristig von Slobodan Komljenovic an den Schönbusch geholten Frankfurter A-Junioren war die Regionalliga eine Nummer zu groß.“
In der Bayernliga war dann wieder Siegen angesagt. Der Mehrzahl der Fans hats Spaß gemacht. Euch auch oder hättet ihr lieber weiter in der Regionalliga Nehmerqualitäten bewiesen? Der Bayernliga kann man ja einen gewissen provinziellen Charakter nicht absprechen…
„Es war zweifellos wichtig, sich über Siege wieder Selbstvertrauen aufzubauen und vor allem auch Imagepflege zu betreiben. Viele haben doch insgeheim gedacht, dass wir als klarer Regionalliga-Absteiger nicht viel draufhaben können und somit auch in der Bayernliga kaum Schrecken verbreiten dürften. Wir haben mit unserer Präsenz in der Liga inklusive eindrucksvollem Wiederaufstieg im zweiten Jahr aber gezeigt, dass sich ein Regionalliga-Absteiger auf einem Spielniveau befindet, mit dem er in der unterklassigen Bayernliga zu den Titelfavoriten gezählt werden muss.“
Mit dem sofortigen Wiederaufstieg habt Ihr ja ein klares sportliches Statement abgeliefert. Die Regionalliga-Spielzeit 2015/16 wurde dann auf Relegationsplatz 15 beendet. In der Relegation boten sich gegen die Bayernligisten Bayern Hof und 1860 Rosenheim gleich zwei Chancen, die Klasse zu halten. Ihr konntet aber keine davon nutzen und musstet wieder den Gang in die Bayernliga antreten.
„Für uns war das damals natürlich auch enttäuschend, aber in der Relegation kann halt alles passieren. Zwischen einem Bayernliga-Meister und einem Regionalliga-Absteiger bestehen nun mal keine großen Leistungsunterschiede. Oft spielt da die Tagesform das Zünglein an der Waage. Nach dem Hinspiel in Rosenheim waren wir eigentlich überzeugt, dass wir die bei uns schlagen. Wir haben im Rückspiel einfach schlecht gespielt und zudem ein dummes Tor kassiert. So kommt das dann zustande.“
Nach dem zweitem Abstieg binnen drei Jahren war der Begriff „Fahrstuhlmannschaft“ geboren. Hat Euch das geärgert?
„Ein Körnchen Wahrheit lag da schon drin, denn wir bewegten uns damals leistungsmäßig irgendwo dazwischen. Auf der einen Seite zu stark für die Bayernliga, auf der anderen Seite noch nicht fähig, sich dauerhaft in der Regionalliga zu etablieren.“
In der laufenden Saison, dem Jahr 2 nach Eurem neuerlichen Aufstieg, legt ihr den Nimbus einer Fahrstuhlmannschaft allerdings sehr eigenwillig aus, indem ihr einfach mal den Knopf für die nächsthöhere Etage drückt. Sind euch nur die Finger ausgerutscht oder worauf führst Du diesen Aufwärtstrend zurück?
„Es gibt mehrere Bausteine, die uns dahin gebracht haben, wo wir jetzt sind. Dadurch, dass wir nicht mehr ständig mit Trainerwechseln konfrontiert werden, haben wir mehr Konstanz in der Mannschaft. Die Handschrift eines Trainers wird immer erst nach einer gewissen Zeit sichtbar. Es braucht Zeit, bis sich alles einspielt. In Kombination mit dem Trainerteam haben wir als Mannschaft zu uns gefunden, personelle Verstärkungen kamen zur rechten Zeit. Nicht zuletzt speist sich unser Erfolg aus einer spielerischen Unverkrampftheit, die man am besten mit „Fußball ist nicht alles“ umschreiben könnte. Was noch ganz wichtig ist: In dem ganzen Konstrukt „Verein“ herrschte Ruhe, eine positive Öffentlichkeitsarbeit beugte zudem Störfeuern von außen vor. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Die Viktoria war immer dann erfolgreich, wenn es atmosphärisch stimmte.“
Skeptiker könnten zu bedenken geben, dass die Regionalliga Bayern in jüngerer Zeit an sportlicher Strahlkraft eingebüßt hat. Alles, was Rang und Namen hatte, spielt mittlerweile in der 3. Liga. Ist die Tabellenführung der Viktoria nicht auch diesen glücklichen Umständen zu verdanken oder siehst Du sie eher als Zeugnis eigener Stärke?
„Beides trifft zu. Wir haben uns als Verein und Mannschaft natürlich enorm weiterentwickelt. Darüber sollte man aber nicht vergessen, dass viele von den starken Teams mittlerweile in der 3. oder gar 2. Bundesliga sind. In den letzten Jahren haben mit Jahn Regensburg, SpVgg. Unterhaching, den Würzburger Kickers, den Bayern Amateuren und 1860 München allein fünf Teams aus der Regionalliga Bayern über die Relegation den Sprung (zurück) in den Profifußball geschafft, die Löwen-Reserve musste in die Bayernliga zurückziehen. Wenn die heute noch da wären, stünden wir heute mit Sicherheit nicht ganz oben. Dennoch würde ich nicht so weit gehen, zu sagen, dass das unsere momentane Tabellenführung relativiert. Wir stehen völlig zu Recht dort, wo wir heute stehen. Oben genannte Vereine spielen wieder in 3. respektive 2. Liga, weil sie von ihrer Leistungskapazität dort auch hingehören. Auch Türkgücü hat mit seinen finanziellen Möglichkeiten und einem entsprechend hochgerüsteten Kader in der Regionalliga nichts verloren.“
Kann man das auf die Aussage herunterbrechen, dass in der Spielzeit 2019/21 spätestens seit dem vorzeitigen Aufstieg von Türkgücü erstmals „Waffengleichheit“ unter den Konkurrenten herrscht?
„Ganz so ist es auch nicht. Wir haben mit Schweinfurt, Bayreuth und der Club-Reserve immer noch Mannschaften im Teilnehmerfeld der Regionalliga Bayern, die mit anderen finanziellen Mitteln ausstaffiert sind und im Prinzip Profitum betreiben. Daher ist es keineswegs als Selbstverständlichkeit zu betrachten, wenn eine reine Amateurmannschaft wie die Viktoria Tabellenführer ist.“
Wie stehst Du dazu, vom momentanen Tabellenstand in einer alles andere als „normal“ zu bezeichnenden Saison Drittliga-Ambitionen abzuleiten?
„Das ist eine gute Frage. Ich sage es jetzt mal generell: Wenn man Erster in der Regionalliga ist, darf man auch den Anspruch erheben, in der 3. Liga zu spielen. Allerdings ist der Schritt ein extrem großer. In der Regionalliga bestehen unsere Gegner zu 80 Prozent aus Amateuren und zu 20 Prozent aus Profis. In der dritten Liga sind es zu 100 Prozent Profis. Damit ist doch eigentlich schon alles gesagt. Auch beim Thema „Aufstieg in die 3. Liga“ sollte man die Bedeutsamkeit des Moments im Auge behalten. Im Klartext: Wer hätte vor der Saison gedacht, dass wir oben stehen würden? Von Abstieg redet schon ewig keiner mehr. Wir haben unabhängig davon, auf welchem Platz wir letztlich die Runde beschließen, schon jetzt viel erreicht."
Teil 3 folgt …
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Stand: 28. März 2021 / Verfasser: Wolfgang Fleischer & Moritz Hahn
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