Der zweite Corona-Lockdown hat dem Spielbetrieb in den Amateurligen endgültig den Garaus gemacht, wenigstens was das Jahr 2020 betrifft. Vor dem Frühjahr tut sich auch in der Regionalliga Bayern nichts mehr, was der Viktoria mit der Tabellenspitze ein schwindelerregendes Winterquartier beschert. Medikamente gegen Höhenangst für die betagte Dame sind dennoch nicht angezeigt, verfügt sie doch mit Jochen Seitz über einen „bodenständigen“ (Selbstbeschreibung) Trainer. Ehe wir den Coach, der mitten in den Vorbereitungen zur Fußballlehrer-Prüfung steckt, zum aktuellen Status seines ambitionierten Projekts befragt haben, haben wir ihn daher um seine Einschätzung des tabellarischen Hochs gebeten und ungefähr Folgendes erfahren: Nein, die Viktoria hat sich nicht wie eine kletterfreudige Katze „versehentlich“ in den Baumwipfel der Tabelle verstiegen und weiß jetzt ängstlich weder vor noch zurück, sondern die Klettertour war von langer Hand vorbereitet und ist nur ein Beweis mehr dafür, dass momentan im Team alles stimmt.
Das Interview mit Viktoria-Trainer Jochen Seitz führten Wolfgang Fleischer und Moritz Hahn.
Jochen, ein in mancherlei Hinsicht ungewöhnliches Fußballjahr neigt sich dem Ende zu. Was ist Dein Fazit?
Jochen Seitz: „Was den reinen Ablauf betrifft, sind natürlich die ärgerlichen, aber gleichwohl notwendigen Corona-Pausen hängen geblieben. Sportlich betrachtet können wir sehr zufrieden sein. Gerade zuletzt, im Anschluss an den ersten Lockdown, haben wir eine sehr gute Serie hingelegt. Wir mussten ja einen großen personellen Umbruch bewältigen und hatten das Glück, dass uns eine längere Vorbereitungsphase vergönnt war, in der wir uns einspielen konnten.“
Türkgücü aufgestiegen, Viktoria nach dem Lockdown bärenstark zurückgekommen und nun als Tabellenführer überwinternd. Gewitzte Naturen kämen da auf die Idee, die Viktoria zumindest in sportlicher Hinsicht als „Corona-Profiteur“ zu bezeichnen…
„Das sehe ich etwas anders. Mit Ausnahme von Türkgücü, das eine Klasse für sich bildete und sich schon weit abgesetzt hatte, waren schon vor Corona alle Teams in unserer Reichweite. Schweinfurt z.B. hatte gerade einmal vier Punkte Vorsprung. Wir haben also schon vor Corona gute Leistungen gezeigt und dadurch an Selbstvertrauen gewonnen. Das Team ist extrem lernwillig und will sich stetig weiterentwickeln. Somit habe ich mit dem Begriff Corona-Meister schon ein Problem.“
Nach dem letzten Spiel gegen Schalding-Heining waren aus dem Kreis der Mannschaft unterschiedliche Stimmen zu hören. Die einen waren froh über die vorgezogene Winterpause, die anderen bedauerten, dass der aktuell gute Lauf unterbrochen wird. Welcher Fraktion rechnest Du Dich zu?
„Ich glaube, ich spreche für alle, wenn ich sage, dass wir gerne weitergespielt hätten. Wenn man Fußballer ist, dann will man unbedingt auf dem Fußballplatz stehen. Wenn man an seinem Sport Spaß hat, will man ihn auch ausüben. Insofern ist der erneute Lockdown, so notwendig und unvermeidbar er war, ärgerlich.“
Aus aktuellem Anlass: Würdest Du gerne mit Felix Magath Schafkopf spielen?
(lacht) „Ich glaube, der Felix hat genug Geld in seinem Leben verdient. Somit dürfte er kein Problem damit haben, sich mit mir an einen Tisch zu setzen. Wenn das irgendwann mal der Fall sein sollte, würde ich ihm zeigen, dass in Aschaffenburg nach wie vor ein hervorragender Schafkopf gespielt wird.“
Du machst ja zur Zeit in der Sportschule Hennef den Lehrgang zum Fußballlehrer und konntest vor kurzem „Bergfest“ feiern. Wie läuft`s?
„Grundsätzlich gut. Aber auch hier führt Corona Regie. Schon am Anfang mussten wir in getrennten Gruppen unterrichtet werden. Dann gab es eine etwas entspanntere Phase, in der wir alle zusammengekommen sind. Seit Anfang November sind wir nun im Home-Schooling, werden also online beschult. Natürlich ist das alles andere als optimal. Der Lehrgang lebt eigentlich vom Austausch mit anderen Trainern und den Ausbildern. Dieser Austausch vor Ort in der Sportschule fehlt derzeit einfach. Unabhängig davon haben die Ausbilder einen guten und abwechslungsreichen Lehrplan für die Online-Schulung ausgearbeitet. Wir bekommen unseren Stoff durch, wenn auch auf einem anderen Wege als ursprünglich vorgesehen. In der aktuellen Situation ist das aber kein Wunschkonzert. Wir müssen die Situation einfach so annehmen, wie sie ist, und das Beste daraus machen.“
Da der Ligabetrieb pandemie-bedingt ruht, kannst Du Dich ganz auf den Lehrgang fokussieren. Ein Vorteil?
„Grundsätzlich würde ich die Doppelbelastung gerne auf mich nehmen, wenn wir nur weiter Fußball spielen könnten. Schließlich will man das gerade neu Erlernte gleich auf dem Platz ausprobieren. Zugegebenermaßen kann man sich etwas mehr auf die Lehrgangsthemen fokussieren, aber „mit Fußball“ wäre mir trotzdem lieber.“
Wo liegen die Schwerpunkte des Lehrgangs bzw. welche Lerninhalte kommen neu hinzu?
„Der Fußballlehrer-Lehrgang soll einen auf das Coaching im professionellen Bereich vorbereiten. Man soll das Rüstzeug erhalten, um sich in der Bundesliga als Trainer zu etablieren und erfolgreich zu sein. Die „Basics“ sind ja schon in der C-, B- und A-Lehrgängen ausgiebigst vermittelt worden. Beim Fußballlehrer kommen neue Themengebiete hinzu. Schwerpunkte liegen in den Bereichen Psychologie und Fußball-Fitness. In den 12 Monaten des Lehrgangs sind die Prüflinge mit sehr viel Input konfrontiert.“
Welche Themen des Lehrgangs wecken Dein besonderes Interesse und gibt es welche, die Du eventuell eher knapper behandelt sehen würdest?
„Generell: Am meisten interessieren einen Trainer natürlich die Inhalte, mit denen er seine Mannschaft zum sportlichen Erfolg führen kann. In diesem Zusammenhang interessiert mich das Thema Menschenführung besonders. Es ist ja so, dass man als Trainer auch schwierige Entscheidungen treffen und dann auch entsprechend kommunizieren muss. Auch der Umgang mit Presse und „Staff“ will gelernt sein. Im Endeffekt muss freilich jeder Trainer für sich selbst entscheiden, was er von dem Lehrgang mitnimmt, was er umsetzt und vielleicht auch ignoriert. Da muss jeder seinen eigenen Weg gehen.“
Auf was darf sich die Viktoria mit einem ausgebildeten Fußballlehrer Jochen Seitz freuen? Was die Tabelle angeht, besteht aktuell ja keinerlei Optimierungsbedarf…
„Wer mich kennt, weiß, dass ich zum einen sehr bodenständig bin, auf der anderen Seite aber auch sehr ambitioniert. Ich möchte, dass wir so erfolgreich sind wie möglich. Angesichts der Tabellenführung sind wir auf einem sehr guten Weg. Schon bisher war eine von gegenseitigem Respekt geprägte, kommunikative Atmosphäre innerhalb des Teams der Garant für den Erfolg. Nur im Team kann man erfolgreich sein: das werde ich in einer zukünftigen Funktion als Fußballlehrer nicht müde, meinen Spielern zu sagen.“
Der Kurs hat 25 Teilnehmer. Einige – wie Miroslav Klose und Du – können auf eine Karriere als aktiver Fußballer im Profibereich zurückblicken. Sind derlei praktische Erfahrungen in der Fußballlehrer-Ausbildung von Vorteil oder kommen eher Fußballtheoretiker mit ausgeklügelten Konzepten auf ihre Kosten?
„Direkt kommt es der Trainerausbildung nicht zugute. Es ist aber so, dass jeder seine Erfahrungen mit einbringt. Es gibt ja auch viele Teilnehmer, die in Nachwuchsleistungszentren arbeiten und ganz andere Stärken haben. Jeder gibt was in die Gruppe rein, so dass jeder von den Stärken der anderen etwas profitieren kann. Wir helfen uns untereinander. Im Endeffekt geht es darum, die Prüfung zu bestehen und Fußballlehrer zu werden. Was mich persönlich betrifft, so möchte ich meine Profi-Vergangenheit nicht missen, denn sie ermöglicht mir als Trainer, mich besser in meine Spieler hinein zu versetzen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, unter Druck Fußball zu spielen. Zusammenfassend ist wohl ein Mix aus Theorie und Praxis ideal. Insofern bin ich da ganz gut aufgestellt.“
Wenn Du drei Wünsche für das Jahr 2021 frei hättest…
„Das ganz große Thema ist aktuell Gesundheit. Wir wünschen uns natürlich alle, dass wir im neuen Jahr gesund bleiben. Ein Ende der Pandemie wäre natürlich schön, so dass wir möglichst bald wieder auf dem Platz stehen, optimalerweise ohne Zuschauerbeschränkungen. Fußballerisch wollen wir uns stetig weiterentwickeln und die großen Favoriten der Regionalliga auch weiterhin ärgern.“
Vielleicht noch ein Wort zum Jahresbeschluss an die erwartungsvoll lauschende „Viktoria-Familie“?
„Zuallererst möchte ich mich bei unseren ehrenamtlichen Helfern bedanken, ohne deren Hilfe die Viktoria niemals so erfolgreich sein würde. Ein Dankeschön auch an die Fans für die Unterstützung im abgelaufenen Jahr. Wir wollen auch weiterhin mit eigener Münze zurückzahlen, indem wir über unser Fußballspiel Freude bereiten.“
Eure Münze ruft derzeit ein solches Spaßprogramm ab, dass ihr für das kommende Jahr keine neue prägen müsst. Jochen, wir danken für das Gespräch, wünschen für den Rest der Saison 2019/21 weiterhin sportlichen Erfolg und hoffen auf einen (bis dahin) Fußballlehrer Jochen Seitz, der uns das Ganze dann anschaulich erklärt!
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Stand: 22. November 2020 / Verfasser: Wolfgang Fleischer & Moritz Hahn
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